Wissen med. Entspannungsverfahren

Warum medizinische Entspannungsverfahren erlernen?
(Auszug aus der eigenen Diplomarbeit 2022)

Vieles in unserem Leben kann durch äussere oder innere Herausforderungen zu Stress führen. Sei dies bei der Arbeit, in der Familie und schwierige persönliche oder soziale Erfahrungen. Es entstehen körperliche, emotionale oder kognitive Prozesse, die sich unangenehm anfühlen und krank machen können. Diese sogenannte Stressreaktion hat einen evolutionären Hintergrund und dient uns seit dem Ursprung des Menschen als Schutzmechanismus vor Gefahren. Dieser Schutzmechanismus stellte uns in akuten Gefahren genügend Energie zur Verfügung, damit wir kämpfen konnten (z.B. bei der Jagd), oder die nötige Kraft aufbrachten um zu flüchten (z.B. bei Angriff eines Raubtieres). Kurzfristig kann die Stressreaktion lebensrettend sein. Der Schutzmechanismus wird nach Hans Seyle und Walter Cannon als „fight or flight response“ bezeichnet und ist grundsätzlich nicht schädlich, sofern nach der Stressreaktion die Entspannung folgt . In unserer heutigen Zeit, fehlt das Gleichgewicht zwischen Anspannung und Entspannung oft. Wir haben es nicht mehr mit Raubtieren zu tun, sondern mit anderen, oft länger andauernden Belastungen. 

Die Folgen von Langzeitstress sind darauf zurück zu führen, dass die Funktionen der Stressreaktion längerfristig schaden. Die Anspannung der Muskulatur kann zu chronischen Schmerzen führen, die erhöhten Werte von Cortisol und Blutzucker können Diabetes oder ein schwaches Immunsystem zur Folge haben. Die Verengung der Gefässe steigert die Gefahr von kardiovaskulären Erkrankungen oder Bluthochdruck. Die ständige Unterdrückung von wichtigen Organfunktionen, wie dem Verdauungssystem, begünstigen nicht selten chronische Darmerkrankungen oder Magenbeschwerden. Die Aufzählung könnte noch viel weiter fortgeführt werden. Andauernder Stress, wie wir ihn in der heutigen Gesellschaft nur zu gut kennen, macht krank. Was aber hält uns gesund? Neben Themen wie, gesunde Ernährung, Bewegung, Aufhalten in der Natur oder Beziehungen pflegen, ist es bedeutend, Zeiten der Ruhe und Entspannung zu schaffen.

Standardisierte Entspannungsverfahren wie med. AT, med. PME und med. AI®, erwirken durch eine regelmässige Übungspraxis, mithilfe von spezifischen Abläufen, eine physiologische Entspannungsreaktion und einen veränderten Bewusstseinszustand. Diese lösen Veränderungen im vegetativen Nervensystem aus und wirken im Weiteren positiv auf Emotionen und Kognition ein. Sie verfügen entsprechend über einen gesundheitsfördernden und therapeutischen Effekt und werden in der ambulanten oder stationären Behandlung, Rehabilitation, Prävention und bei vieler psychischer oder physischer Störungen eingesetzt . Der Begriff „medizinisch“ darf verwendet werden, wenn die Fachperson entspannungsmedizinisches Wissen und ein wissenschaftliches Krankheitsverständnis angeeignet hat.

Med. Progressive Muskelentspannung

Die Progressive Muskelentspannung (PME) wurde vom Amerikaner Edmund Jacobson erfunden. Er schloss 1915 an der Harvard University Medizin und Physiologie ab und qualifizierte sich später für innere Medizin und Psychiatrie (Krampen, 2013). Er beschäftigte sich mit physiologischer Grundlagenforschung und erkannte dabei, dass psychische Anspannungen immer auch mit Muskelkontraktionen verbunden sind und muskuläre Entspannung positive Auswirkungen auf Körper und Seele hat. Eine unzertrennliche Einheit mit ganzheitlicher Reaktion und gegenseitiger Beeinflussung. 
Progressive Muskelentspannung ist ein anspannungsaktives Verfahren und eignet sich besonders gut als Einstiegsverfahren, insbesondere bei ausgeprägten Konzentrationsschwierigkeiten, bei Kindern und Jugendlichen, bei Angst oder zur allgemeinen Stressreduktion aufgrund der Handlungsaktivität beim Üben. PME wirkt sowohl auf muskuläre wie auch innere Anspannungen ein, reduziert Stresssymptome, verbessert die Körperwahrnehmung und hat einen ausgleichenden Effekt auf die Affekte. Es gibt unterschiedliche Umsetzungsformen der PME. Die hier teils beschriebene Variante, kann in 6 - 8 Sitzungen innerhalb von ca. 12 – 16 Wochen erlernt werden.  
„Grundprinzip“
Die Übenden erlernen ihre Wahrnehmung auf verschiedene Muskelgruppen des Bewegungsapparates zu lenken, diese auf Signal spürbar anzuspannen, hineinzuspüren, auf Signal wieder loszulassen und die Konzentration auf die Entspannungsempfindungen zu legen. Wichtig ist, die Kontrasterlebnisse zu vergegenwärtigen und länger in der Entspannung als in der Anspannung zu verweilen. Mit steigender Übungspraxis soll die Anspannung immer mehr verringert werden, bis schlussendlich ohne vorherige Anspannung direkt muskulär losgelassen werden kann, um einen möglichst guten Alltagstransfer bieten zu können. Nach Erlernen der Methode, kann PME in Alltagssituationen bei stressbesetzten Situationen angewendet werden.

Med. Autogenes Training

Das autogene Training hat seine Wurzeln in der Hypnose. Bereits ab dem 18. Jahrhundert beschäftigten sich Ärzte, Professoren und Neurologen mit der Hypnose und deren Wirkungsweisen. Entscheidende Erkenntnisse lieferte Oskar Vogt. Er beschäftigte sich mit der Differenzierung von Auto- und Fremdhypnose. Mit seinen Klassifikationen zu den, von den Versuchspersonen angegebenen Empfindungen und Erlebnissen, schaffte er die Grundlage, auf die der deutsche Erfinder des Autogenen Trainings Dr. med. Johann Heinrich Schultz aufbaute. Schultzes Interesse lag in den Empfindungen und der Wirkung durch die Hypnose, von denen seine Patienten in seiner Behandlung berichteten. Sie beschrieben körperliche Reaktionen wie empfundene Wärme oder Schwere, Beruhigung des Herzschlages und der Atmung sowie eine angenehme Müdigkeit. Im Weiteren fühlten sie sich nach der Hypnose erfrischt, angstfreier und ausgeglichener. Körperliche Empfindungen wie Erschöpfung, Verspannungen oder Kopfschmerzen nahmen ab. Er legte diese Reaktionen ins Zentrum seiner Überlegungen und war der Ansicht, dass es zu deren Erzeugung keinen Hypnotiseur und keine Fremdsuggestion benötigen würde, sondern diese Reaktionen selbst herbeigeführt werden könnten. Er war der Überzeugung, dass die regelmässig auftretenden, körperlichen Reaktionen eine sogenannte selbsterzeugte psychovegetative „Umschaltung“ in einen Entspannungszustand war. Diese „Selbstbeeinflussung“ löste die passiven-fremdhypnotischen Verfahren ab. Mit schlussendlich sechs verschiedenen Gedankenformeln entstand der Kern des AT, den Körper eigenständig, „autogen“ in einen hypnoiden Zustand zu versetzen. 
Die Grundstufe vom med. AT ist eine in sich abgeschlossene Einheit. Wiederholtes systematisches Üben erzielt einen ganzheitlichen Entspannungszustand, welcher nach hinreichendem Training längerfristig für ein besseres Allgemeinbefinden sorgt, belastende Situationen entspannter durchlebt werden können und zu einer gelassenen Grundhaltung führt. Die Methode ist ein konzentrativ-selbstherbeigeführtes Entspannungsverfahren und kann entsprechend, nach Erlernen der Methode selbstständig, ohne Fremdsuggestion und ohne weitere nötige Hilfsmittel im Alltag jederzeit angewendet werden. 
Die AT-Grundstufe besteht aus 6 physiologischen Grundübungen. Die sechs Formeln werden nacheinander ca. im 1 – 2 Wochenrhythmus erlernt. 
Bei der Mittelstufe werden an die 6 Grundformeln sogenannte formelhafte Vorsätze angefügt. Es sind Formeln, welche einen gewünschten Soll-Zustand im Alltag, mithilfe selbstgewählter Gedanken oder Bildererleben unterstützen sollen. Sie dienen dazu, beispielsweise bei Prüfungsangst oder im Bereich Sport Befürchtungen, Angst oder negative Vorstellungen zu unterbrechen und die positive Selbstbeeinflussung zu fördern. Um die Mittelstufe erlernen zu können, bedarf es einer vollständig erlernten Grundstufe mit erfolgreichem Einsetzen der organismischen Umschaltung (Entspannungsreaktion).

Med. Achtsamkeits-Interozeption®

«Die medizinische Achtsamkeits-Interozeption® (med. AI) ist die an das aktuelle westlich-wissenschaftliche Medizinverständnis adaptierte und standardisierte Version der chinesischen Hun Yuan – Methode.» (medrelax, 2020)

Bei der Form med. AI® handelt es sich um ein selbstaktives medizinisches Entspannungsverfahren bei dem stufenweise die Ganzkörperwahrnehmung (Interozeption) und die Achtsamkeit im gegenwärtigen Moment erlernt und praktiziert wird. Dadurch entstehen Mechanismen, welche sowohl auf physiologischer als auch psychologischer Ebene ihre Wirkung haben, in dem innere Anspannungen sowohl muskulär als auch emotional und gedanklich abgebaut werden.

Um AI® zu praktizieren braucht es keine Hilfsmittel und die Methode ist an keinen Ort oder sonstige äussere Faktoren gebunden. Es soll Wind und Nässe vermieden werden und es empfiehlt sich an einem ruhigen Ort zu üben sowie die Übungszeit in den täglichen Ablauf einzuplanen. Wichtigste Aufgaben beim AI® sind das muskuläre Loslassen, Hineinspüren in den Körper und die Körperempfindungen zu beobachten. Dabei soll nichts forciert werden. Das Wohl des Körpers und die Entspannung steht im Vordergrund.

Eine regelmässige Achtsamkeitspraxis im medizinischen Entspannungszustand, führt mit der Zeit zu einem Gewahrseinszustand ("im hier und Jetzt zu sein") und überträgt sich in den Alltag als Persönlichkeitszug. Diese Übertragung auf den Alltag, kann zu spannenden Verhaltensänderungen und neu entstehender Gelassenheit führen (körperlich, emotional und mental).

Bilder:

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